Gott geht uns Menschen hinterher. Er sucht uns, ruft uns neu in die Gemeinschaft mit ihm, bietet uns seine Freundschaft an – jedem von uns! Er will wie ein guter Arzt die Wunden unserer Seele heilen, bis wir wieder ganz heil sind. Das klingt alles schön. Vielleicht zu schön, um wahr zu sein? Vor allem, wenn wir es auf uns ganz persönlich beziehen.
Schnell steigt eine Frage in uns auf: Wo ist aber denn dann dieser Gott, der uns so nahe sein soll? Versteckt er sich etwa, da wir ihn doch nicht sehen können; und auch nicht spüren. Ist alles vielleicht doch ein schöner Traum?
Nein, es ist nicht nur ein schöner Traum. Gott ist eine Wirklichkeit! Und seine Liebe zur Menschheit – zu dir, uns, mir – auch. Aber zugegeben: es ist für uns Menschen von heute nicht leicht, diese Gegenwart Gottes wahrzunehmen. Das hängt mit zwei Realitäten zusammen:
1. Gott ist nicht sichtbar, da er ein rein geistiges Wesen ist. Wir Menschen aber leben zutiefst eingetaucht in eine materielle Welt, wo man messen, fühlen, berühren, planen und sehen kann. Das sind zwei unterschiedliche Welten.
2. Gott liebt und respektiert unsere freie Entscheidung. Er hat sich aus Liebe an unsere Freiheit binden wollen. Er zwingt uns also nicht zu einer Beziehung, bietet sie aber doch an.
Gott spricht zu uns in unserem Innern und er wirkt dort, in der Regel zwar verborgen, aber doch vernehmbar und erfahrbar. Wenn er nun ein offenes Herz, eine bereite Seele findet, die – bei aller Unzulänglichkeit vielleicht – „Ja“ sagen und antworten will, dann geht er einen Schritt weiter. Wenn die Seele sich verschließt oder negativ antwortet, dann zieht sich Gott respektvoll zurück, um es später wieder zu versuchen. Beispiele davon finden wir viele in der Heiligen Schrift, wie etwa den reichen Jüngling, den Christus einlädt, der sich aber von ihm abwendet; oder als Gegenbeispiel die Sünderin, die seine Nähe sucht und Verzeihung erlangt; oder das Volk Israel, das immer wieder wankt zwischen Vertrauen auf den Herrn und Suche von Sicherheit bei anderen „Göttern“.
Wie nun möchte Gott sich unserer Seele nähern? Welchen Weg wählt er? Was können wir tun, wie antworten, ja wie hören, erfahren. Wie geht das alles?
Nachdem die Menschen der ersten Zeiten die gute Beziehung zu ihrem Schöpfer aufgekündigt hatten, standen Gott viele Möglichkeiten offen, darauf zu reagieren. Er hätte den Menschen ins Dunkel gehen lassen können, ohne ihm seine übernatürliche Hilfe und seinen Schutz anzubieten. Dann wäre der Mensch den Mächten der Finsternis, des Bösen, der Sinnlosigkeit ausgeliefert. Er hätte den Menschen in seinem inneren Verwundetsein belassen und ihn das selbstverschuldete Leid allein tragen lassen können; eine Last, die ihn letztlich erdrückt hätte. Doch nein, Gott ist der Liebende. Und deshalb, ganz unverdient und als freies Geschenk, gibt Gott dem Menschen die Möglichkeit zur (erneuerten) Beziehung mit ihm, ja auch zur inneren Neugestaltung, weg von der Ichbezogenheit hin zur wahren schenkenden Liebe. Also nicht Verwerfung, sondern Ankündigung der Erlösung; daher die Erwählung eines Volkes, das Gott auf besondere Weise führt, erzieht und vorbereitet; daher die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. Unverdientes Zugehen Gottes auf den einzelnen Menschen und die Gesamtheit aller. Das griechische Wort für „unverdiente Gabe, Geschenk, Freude“ lautet „charis“, im Deutschen als „Gnade“ übersetzt. Dieses Wort haben die Theologen letztlich dem Wirken Gottes im Menschen gegeben. Gnade, das ist der Weg, den Gott wählt. Er möchte zu uns sprechen, sich uns nähern, uns helfen und innerlich erneuern in der und durch die Gnade. Sie ist ein unverdientes Geschenk, eine Gabe Gottes, durch die er uns in die Freude – die Freude der Gemeinschaft mit ihm und des Heils – führt.
Wie muss man sich das nun vorstellen? Was bedeutet das?
Wie wir im Kapitel über die Seelenkräfte des Menschen beschrieben haben, sind wir durch eine nicht ganz klar fassbare, aber doch reale Weitergabe der Urschuld der ersten Eltern vom Moment unserer Entstehung an seelisch verletzt. Diese so genannte „Erbsünde“ bringt den bereits erwähnten vierfachen Beziehungsbruch mit sich: die gestörte Beziehung zu Gott, die zu den anderen, die zu mir selber, und die zu den Dingen dieser Welt. Jeder kann das leicht in seinem Leben spüren und um sich herum beobachten.
Diese Urschuld und ihre Folgen im konkreten Menschen lässt Gott nicht so stehen. Er bietet Hilfe und Heilung an. Das ist einmal eine ganz grundsätzliche Erneuerung der Beziehung zu ihm, die für uns wegen der Sünde eigentlich nicht mehr so möglich war. Dann auch die schrittweise Heilung unserer Seele: die Seelenkräfte werden langsam neu gestärkt und geheilt, in ihrer Beziehung zueinander werden die Sinnenkräfte und die geistlichen Anlagen geordnet und in das richtige Verhältnis zueinander gebracht. Der innere Mensch wird geheilt, die Beziehung zu Gott kann wieder neu im Vertrauen und gegenseitiger Nähe erstarken; wir nehmen am Leben Gottes teil.
Alles das tut Gott auf sehr respektvolle und zarte Art und Weise in einem lebenslangen Wachstumsprozess, den er bei allen Menschen anstößt. Man könnte also sagen: Gnade ist ein liebendes Herabneigen Gottes zum Menschen, durch das er ihn fähig macht, wieder in eine wachsende Beziehung zu seinem Schöpfer einzutreten und innerlich von der Erbsünde und ihren Folgen geheilt zu werden. Die Gnade bewirkt, dass wir unsere Ichbezogenheit schrittweise erkennen, langsam gegen sie angehen, sie immer mehr überwinden und so zu wahrhaft Liebenden werden, Gott ähnlich, der der Liebende schlechthin ist. Alles also, was in uns diese Wirkung hat beziehungsweise diese Folgen hervorbringt, hat ganz eng mit Gnade zu tun.
Wenn eine Frau schwanger wird, dann beginnt in ihr ein neues Leben zu wachsen, ein neues menschliches Leben. Wenn jemand die sogenannte „heiligmachende“ Gnade erhält (durch die Taufe), dann beginnt in ihm ebenfalls etwas Neues zu wachsen, nämlich ein inneres Leben, das ihn zur Freundschaft mit Gott befähigt. Gnade ist also wie ein neues, ein geistliches Leben in uns. Im Unterschied zum menschlichen Leben einer Schwangeren wächst dieses Leben allerdings nicht von allein, wenn man es nicht daran hindert, sondern es benötigt die freie Mitarbeit. Der Mensch muss die Gnadengeschenke Gottes suchen, wollen, auf sie antworten. Tut er das beständig und mit wachsender Aufmerksamkeit, dann wächst dieses Leben; die Beziehung zu Gott; die Freundschaft und Vertrautheit zwischen ihm und dem Menschen festigt sich. So kommt es, dass es Personen gibt, die eine ganz enge Beziehung zu dem unsichtbaren Gott haben, und andere, die so weit von ihm sind, dass sie behaupten, es gäbe ihn gar nicht.
Wie kann man nun Gnade erhalten und darin wachsen?
Die wichtigsten Quellen der Gnade, die Gott den Menschen geschenkt hat, sind die Sakramente der Kirche. In den nächsten Kapiteln werden wir darauf eingehen. Diese Sakramente schenken der Seele des Menschen sehr viel Gnade („sakramentale Gnade“).
Gebet ist eine weitere wichtige Art, Gnade zu erhalten. Sowohl das persönliche, als auch das gemeinschaftliche Gebet. Auch darüber werden wir noch ausführlicher sprechen. Außerdem gibt es die vielen kleinen Hilfen, die Gott uns direkt oder indirekt im Laufe des Tages anbietet, um uns näher an ihn zu binden; sei es ein gutes Beispiel eines Menschen, das mich inspiriert, besser den Geboten zu folgen. Sei es ein gutes Buch, ein Zitat, das ich lese. Oder aber einfach ein guter Gedanke, der mich vielleicht immer wieder verfolgt und zum Guten anspornt. All das sind sogenannte „aktuelle Gnaden“, die Gott in seiner Liebe zu uns der konkreten Seele schenkt. Schließlich gibt es noch sogenannte „Standesgnaden“, die Menschen in einem bestimmten Stand (Bischof, Eheleute, geistlicher Leiter usw.) von Gott erhalten, um ihre Aufgabe gut zu erfüllen.
Über die Quellen dieser unterschiedlichen Gnaden wollen wir uns im nächsten Kapitel Gedanken machen. Wichtig bleibt immer, dass Theorie nur dann gut ist, wenn sie auch in die Praxis umgesetzt wird. Das liegt dann an jedem von uns.
Dies ist das zehnte Kapitel aus dem Buch "Einmal Gott und zurück" von P. Klaus Einsle. Dieses Buch basiert auf einer Serie von Artikeln in unserem L-Magazin.