Große Ziele inspirieren Menschen zu großen Taten. Bergsteiger setzen ihr Leben aufs Spiel, um die höchsten Gipfel der Welt zu erklimmen. Sportler rackern sich ab und geben alles, um Höchstleistungen zu erzielen. Feuerwehrleute riskieren ihr Leben, um andere zu retten. Eltern tun alles, um ihre Kinder auf den rechten Wegen zu halten. Große Ziele erfordern große Opfer. Das größte Opfer, das hat ein anderer gebracht…
3000 km von hier hat ein Mann in der Blüte seines Lebens das größte Ziel aller Zeiten vor Augen: Jesus Christus will die Bande aller in Selbstverliebtheit und Egoismus Gefangenen lösen. Er will eine ganze Menschheit für alle kommenden Jahrhunderte aus der Umklammerung des Bösen befreien und den Weg zur Freude, zu ewigem Leben öffnen. Christus will der Menschheit das Glück zurückbringen. Das größte, wichtigste und weitreichendste Ziel in der Geschichte. Und dementsprechend groß auch das Opfer.
Christus starb auf dem Berg Golgota einen qualvollen Tod. Dem ging ein nicht weniger qualvolles Vorspiel voraus. Uns Menschen hat seine liebevolle Hingabe, die er durch alle Gewalt und allen Hass hindurch, die ihm entgegenschlugen, aufrecht hielt, die Erlösung eröffnet. Da der Herr aber nicht einfach so aus dieser Welt gehen wollte, hat er die Eucharistie eingesetzt. Darüber haben wir bereits gesprochen.
Doch Jesus geht noch einen Schritt weiter: Er will seine durch das Opfer besiegelte Liebe immer wieder frisch und persönlich, konkret und in der Gegenwart schenken. Der Herr „erfindet“ die Heilige Messe. „Tut dies zu meinem Gedächtnis.“, lautet sein Auftrag. Was ist denn das „dies“? Worum handelt es sich dabei? Er feiert mit seinen Jüngern die Vorwegnahme seines Kreuzestodes, seines Opfers, seiner Liebe. Nachdem er am Kreuz gestorben ist, beginnen die Apostel zu begreifen, dass sie nun den Auftrag haben, sein Opfer durch die Eucharistiefeier zu vergegenwärtigen. Die heilige Messe bringt die größte Liebe der Geschichte in unsere Zeit hinein. Sie bringt das Opfer Jesu am Kreuz, das er damals vollzogen hat, in unsere Zeit. Durch den Glauben wird es fassbar.
Theologisch gesprochen: Die Eucharistiefeier ist die Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers Christi. „Vergegenwärtigung“ dürfen wir dabei nicht als Wiederholung, aber auch nicht als reine Erinnerung verstehen, so wie eine Geburtstagsfeier, bei der wir uns an den Tag der Geburt erinnern. Wir erinnern uns nicht nur an den Tod Christi vor 2000 Jahren. Bei der heiligen Messe handelt es sich um eine Gegenwart; daher das Wort „Vergegenwärtigung“.
Der Priester wirkt während der Gabenbereitung und Wandlung im Dienste Jesu (vgl. KKK 1367), damit dieser sein Opfer im Hier und Jetzt vollziehen kann. Mit anderen Worten: In der hl. Messe wird der Tod Jesu am Kreuz gegenwärtig. Wir Menschen, die wir an der hl. Messe teilnehmen, werden Teil des einzigartigen Ereignisses, das sich auf dem Golgota ein für alle Mal vollzogen hat (vgl. KKK 1364 ff.). Die Eucharistiefeier transportiert uns an den Fuß des Kreuzes. Das klingt wieder ähnlich verrückt wie die wirkliche Gegenwart Jesu in der Eucharistie (Realpräsenz). Und ist es auch: göttliche Verrücktheit, die in seiner Liebe zu uns gründet.
Mir ist es wichtig, diese Wahrheit der Vergegenwärtigung – und damit Gleichzeitigkeit mit meinem Leben – auch in meinem Leben sehr lebendig werden zu lassen. Als ich zum Diakon geweiht wurde, berührte mich zutiefst der Gedanke: „Wenn ich als Priester die hl. Messe nicht innerlicher feiere, als ich sie jetzt mit vollziehe, dann werde ich sicher kein guter Priester sein.“ Von dann an stellte ich mir im Glauben jeden Teil der hl. Messe anhand einer Bibelstelle lebendig vor, so als wäre ich mit dabei gewesen, als Jesus lebte. Ich stellte mir beim Schuldbekenntnis die Sünderin zu Füßen Jesu vor und versuchte, mit den gleichen Gefühlen wie sie um Verzeihung zu bitten. Beim Evangelium dachte ich, dass Jesus jetzt direkt mit und zu mir spricht und malte mir aus, wie ich in der jeweiligen biblischen Situation gehandelt hätte.
Besonders ergreifend wurden Gabenbereitung, Wandlung und Hochgebet. Dort sah ich vor meinem geistigen Auge, wie Jesus verurteilt wird, sein Kreuz nimmt, sich auf den Golgota hinaufschleppt (der Altar wird oft mit dem Berg Golgota verglichen). Ich dachte, dass das Kreuz mit dem angenagelten Jesus aufgerichtet wird, während der Priester die gewandelte Hostie hochhält; dass der Soldat in Jesu Herz sticht und sein Blut herausfließt, während der Priester den Kelch erhebt. Ich stellte mir vor, wie Jesus tot ist, weil sein Leib und sein Blut getrennt auf dem Altar liegen; und wie er aufersteht, wenn der Priester einen Teil der Hostie in den Kelch taucht.
Wie Jesus dann erscheint, wenn der Priester spricht „Seht, das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt hinweg nimmt.“ Und ich dachte, wie uns Jesus nach all dem Erlebten in unsere Welt hinein schickt mit dem Auftrag, uns auch für unsere Mitmenschen hinzugeben. Ein so intensiver Einsatz von Vorstellungskraft ist nicht jedermanns Sache und sicher kann man die verschiedenen Momente der hl. Messe auch anders deuten. Aber mir hilft diese Art und Weise, die Messe zu feiern, um zu erleben, was ich glaube: „Wenn die Kirche Eucharistie feiert, gedenkt sie des Pascha Christi; dieses wird gegenwärtig. Das Opfer, das Christus am Kreuz ein für allemal dargebracht hat, bleibt stets gegenwärtig wirksam [Vgl. Hebr 7,25–27]: „Sooft das Kreuzesopfer, in dem ‚Christus, unser Osterlamm, geopfert wurde‘, auf dem Altar gefeiert wird, vollzieht sich das Werk unserer Erlösung“ (LG 3) (Vgl. dazu auch KKK 611, 1085)“ (KKK 1364).
Diese Gegenwart und Gleichzeitigkeit mit dem Leben und der Passion Christi hat für mich die hl. Messe zu dem werden lassen, was sie sein soll: „Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens“ (2. Vatikanisches Konzil). Bei Christus unter dem Kreuz zu stehen und seine Liebe, sein Opfer zu erleben, in jedem Gottesdienst neu, da wird die Eucharistiefeier auch zum Mittelpunkt des eigenen Lebens.
Die Größe eines Opfers will die Größe der Liebe ausdrücken. Ein weltweit beständig gegenwärtiges Opfer – in der hl. Messe –, das ist Gottes weltweit beständige unendliche Liebe zu uns Menschen.
Dies ist das siebzehnte Kapitel aus dem Buch "Einmal Gott und zurück" von P. Klaus Einsle. Dieses Buch basiert auf einer Serie von Artikeln in unserem L-Magazin.