Anna Zoll, Studentin, war 2009 bei dem Einsatz in Mexiko dabei und berichtet von ihren Erfahrungen:
"Unser Behandlungssaal ist ein gemauerter größerer Saal mit Wellblechdach, das gern mal bei starkem Wind abhebt und mit nicht geringem Krawall wieder aufschlägt. Hier wurden Holzgestelle aufgestellt und mit Laken bekleidet, so dass auf jeder Seite circa sieben kleine Parzellen entstehen, die als Behandlungszimmer dienen. Man kann sich den Lärmpegel vorstellen: schreiende Kindern, drei Bohrer, die auf Zähne treffen, Ärzte in Gesprächen mit Patienten, Dolmetscher, die übersetzen. Manchmal hatte man den Eindruck, mitten in dem Stimmengewirr Babels zu stecken. Besonders lang konnte der Kommunikationsweg sein, wenn der Patient nur Maya sprach: In diesem Fall wird nämlich von Maya auf Spanisch, von Spanisch auf Englisch oder Deutsch und dann noch einmal die ganzen Informationen, Diagnosen und Ratschläge zurück übersetzt. Das alles fand in diesen durch Laken abgetrennten 5 Quadratmetern statt. Dort befand sich der Arzt, eventuell noch ein unterstützender Medizinstudent, der Übersetzer der europäischen Sprachen, der Maya-Übersetzer, natürlich der Patient und eventuell eines der vielen Kinder oder andere familiäre Unterstützung.
Da frage ich mich: wieso tut sich ein gut situierter Arzt so etwas an? Materielle und zeitliche Opfer, Lärm, Sprachverwirrungen, Enge, Hitze und eventuell eine Liege – wenn man ein Luxuskabinchen mit Liege ergattert hatte, die entweder zu hoch für die 1,5 m großen Mayas oder dem Kaminholz sehr nahe war. Warum tun die Ärzte und die freiwilligen Helfer so etwas, zumal jeden Tag 25–50 Personen auf sie warten? Weil gerade diese Behandlungsräume, diese Laken von Tag zu Tag zwar schmutziger, gleichzeitig jedoch auch leuchtender wurden; voller Wärme, voller echter Dankbarkeit und Mitgefühl. Die äußere Hülle mag zwar sehr ärmlich und provisorisch gewesen sein, doch das, was innerlich passiert ist, das war kostbar, unbezahlbar.
„Caridad que transforma“ (dt.: Liebe die verwandelt) ist unser Leitsatz in diesen Tagen in Mexiko.Wenn Liebe da ist, dann zählt kein Staub und kein Schweiß, da kommuniziert direkt Herz mit Herz und da wird ein einfaches, leer stehendes Pfarrzentrum zu einer Klinik mit Zahnmedizinern, Kinder- und Frauenärzten, Neurologen, Psychiatern, Allgemeinmedizinern, Ernährungsberatern und Optikern. „Caridad que transforma“ scheint ein Zauberspruch zu sein, der Realitäten tatsächlich wandeln kann. Mein Herz wird warm, wenn ich an die alte Mayadame denke, die mit Minus 5 Dioptrien zum ersten Mal eine Brille auf der Nase tragend ins Sonnenlicht stolperte, murmelnd vor Freude. Sie hatte schon vergessen, wie die Welt wirklich aussieht. Natürlich war das Brillenmodell schon längst aus der Mode gekommen, aber sehen konnte sie wieder. Sie war nur eine von circa 200 Patienten, die dank der mitgebrachten und ausrangierten Brillen die Welt in all ihrer Klarheit aufs Neue entdecken und wahrnehmen konnte. In meinem Leben habe ich noch nie soviel Leid und Hoffnung auf einmal gesehen."