Im vorhergehenden Abschnitt sprachen wir kurz über einen vierfachen Beziehungsbruch, den die so genannte „Ursünde“ im Menschen bewirkt hat. Was war im Wesen dieses Geschöpfes geschehen? Was ist der Mensch überhaupt? Wie wichtig die Antwort auf diese Frage ist, hat uns die Geschichte des letzten Jahrhunderts in erschreckender Weise gezeigt: wenn der Mensch auf die reine Materie verkürzt wird, ist er nicht viel mehr wert als ein paar Euro; oder er wird nur so lange gefördert, solange er produktiv ist.
Das Licht Gottes erhellt das Verständnis über den Menschen: Wir sind Wesen aus Leib und Seele. Den Leib mit seinen verschiedenen Funktionen studieren u.a. Biologie und Medizin. Uns beschäftigt heute die Frage nach dem geistigen Element in uns, der Seele. „Seele“ ist der Begriff, mit dem in der Umgangssprache nicht selten „Gefühl“ gemeint ist (z.B. „Lass deine Seele einfach baumeln“, d.h. „Fühl dich einfach wohl“). In unserem Kontext verwenden wir den Begriff „Seele“ für dasjenige im Menschen, das man auch „Lebens- und Einheitsprinzip“ nennen kann. Die Seele ist das, was dem Menschen Leben gibt, was aus Millionen winziger Einzelteilchen eine Einheit macht, ein „Ich“.
Ein „Lebensprinzip“ tragen auch Tiere und Pflanzen in sich, denn auch sie leben. Allerdings spielt sich ihr Leben auf verschiedenen Ebenen ab; und so wird auch die Seele je unterschiedlich benannt. So spricht man bei den Pflanzen von einer „Vegetativ-Seele“, bei Tieren von einer „Sinnen-Seele“ (weil die Tiere im Unterschied zu den Pflanzen mit Sinnen ausgestattet sind), beim Menschen dagegen von der „Geist-Seele“. Es ist ein Lebens- und Einheitsprinzip, das nicht materiell, sondern geistig ist: daher ist der Mensch zu den bereits früher beschriebenen geistigen Aktivitäten wie Abstraktion, Reflexion, freier Willensentscheidung und Selbstbewusstsein fähig.
Der Seele wollen wir uns nun widmen. In der klassischen Anthropologie (Lehre vom Menschen) unterscheidet man zwei Arten von Kräften, die das Seelenleben des Menschen ausmachen: die geistigen und die sinnlichen Seelenkräfte. Über die geistigen haben wir schon verschiedenst gesprochen. Nun wollen wir sie noch einmal etwas schematisch benennen.
Im geistigen Seelenbereich des Menschen finden wir die zwei großen Kräfte Intellekt und Wille.
Durch den Intellekt erkennen wir das Wesen der Dinge (konzeptuelles Denken), verbinden Begriffe (= Konzepte) miteinander, um wahre oder falsche Aussagen zu treffen und sind fähig, logische Schlussfolgerungen aus diesen Aussagen zu ziehen. In diesen drei Grundakten des Intellekts finden wir den Ausgangspunkt zu verschiedensten geistigen Vollzügen wie Reflexion, Selbstbewusstsein, Analyse, Synthese usw. Als Helfer für das Denken nutzt der geistige Intellekt die materiellen Fähigkeiten des Gedächtnisses (auch memoria genannt: sich an Vergangenes erinnern) und der Phantasie (der Fähigkeit, Elemente zusammenzufügen, die so noch nicht erfahren worden sind) und „fährt“ dabei auf dem „Vehikel“ des Gehirns. Der Wille des Menschen ist eine Strebekraft, die zum Guten drängt. Allerdings ist der Wille „blind“ und benötigt Information darüber, ob etwas wirklich gut ist oder nicht, von anderen Kräften, im Idealfall vom Intellekt.
Schließlich finden wir noch eine innere Stimme, die der Mensch sich nicht selber gegeben hat, die darüber urteilt, ob die Taten des einzelnen gut oder schlecht sind. Das ist das Gewissen. Im Grunde ist das Gewissen nichts anderes als die Anwendung der Vernunft auf moralische Fragen. Es tritt in drei Momenten auf, um zu richten: 1) vor einer Handlung wenn der Mensch diese erwägt (z.B. „Soll ich die Steuererklärung in diesem Punkt fälschen?“, 2) während der Tat an sich, und schließlich 3) nach dem Vollzug der Handlung (Gewissensbisse oder Freude über das moralisch Gute „Gut, dass du das nicht getan hast!“).
Intellekt und Wille bilden die geistigen Seelenkräfte des Menschen. Tiere und Pflanzen verfügen nicht darüber.
Auf einer anderen Ebene finden wir drei Seelenkräfte, die nicht geistig sind, sondern materiell-sinnenhaft. Diese sind auch in den Tieren zu finden, nämlich Instinkte, Leidenschaften und Gefühle. Die Instinkte sind tiefe innere Triebe, die den Menschen impulshaft zu gewissen lebensnotwendigen Handlungen treiben. Zu den tiefsten und grundlegendsten Trieben sind wohl zu zählen: Fortpflanzungstrieb, Selbstbewahrung (Beschaffung des Nötigsten zum Leben), Selbstverteidigung (gegen Gefahren). Instinkte sind notwendig und gottgewollt. Sie dienen dem Erhalt einer gewissen Spezies (Fortpflanzungstrieb), dem Erhalt des Individuums (Selbstbewahrung) und dem Erhalt des Individuums in Gefahr (Selbstverteidigung).
Da Instinkte auf Befriedigung hingerichtet sind, müssen sie geleitet und kanalisiert werden. Wenn nicht, übernehmen sie leicht das Ruder und können zerstörerisch werden. Zwei andere wichtige impulshafte Elemente in der Sinnenseele nennen wir in der Fachsprache „Leidenschaften“ (passiones): Liebe und Hass. Aber in einem ganz spezifischen Sinn. „Liebe“ als ein Impuls, durch den wir – ganz allgemein gesagt – alles Gute ersehnen und „haben“ wollen (Begehren); und „Hass“ als ein Impuls, durch den wir Schlechtes, Gefährliches, Schädliches zurückweisen und dagegen kämpfen. Dieser Impuls der Leidenschaft Liebe kann sich nun ebenso gut konkretisieren im blinden Drängen, die „gute“ Sahnetorte zu genießen, wie darin, vom Betrachten einer entzückenden „guten“ Landschaft gar nicht genug zu kriegen. Der Hass als Leidenschaft dagegen zeigt sich z.B. darin, die Anwesenheit einer scheinbar oder real „schlechten“ Person zu verabscheuen und sie meiden zu wollen. Oder darin, dass sich der Katze in der Gegenwart eines Hundes die Rückenhaare aufstellen. Wichtig sind diese beiden Impulse deshalb, weil sie – sowohl Mensch als auch Tier – helfen, ohne zu überlegen dem Guten nachzugehen und das Schlechte zurückzuweisen.
Und schließlich sind da die Gefühle! Auch das Gefühlsleben gehorcht einer gewissen Gesetzmäßigkeit. Man könnte die unterschiedlichen Gefühle den beiden Leidenschaften Liebe und Hass zuordnen: sucht z.B. der Impuls etwas Gutes, erhält es aber nicht, dann stellt sich „logischerweise“ Traurigkeit ein. Erhält er dagegen das Gute, so fühlt man sich „froh“ (Freude). Steht etwas scheinbar oder wirklich Schlechtes vor einem (z.B. Gefahr), so entsteht das Gefühl Angst; beim Verschwinden des Schlechten Erleichterung usw. Gefühle, Leidenschaften und Triebe sind also natürliche Empfindungen der sinnenhaften Welt. Sie sind, wenngleich auf unterschiedliche Weise, dem Tier wie dem Menschen zu eigen. Beim Menschen jedoch finden wir auch „geistige Gefühle“, also solche, deren Ursache sich im Bereich des Geistlichen findet.
Gott hatte den Menschen mit einer wunderbaren inneren Harmonie erschaffen: Vernunft und Gewissen erkannten und sagten dem inneren Menschen, was wirklich gut war – und damit getan werden sollte, und was schlecht war – und damit nicht getan werden durfte; die Gefühle freuten sich am objektiv Guten und verabscheuten das Schlechte, die Instinkte und Leidenschaften unterstanden dem Willen und der Vernunft und dienten ihnen.
Der Wille, informiert durch den Intellekt, strebte nach dem objektiv Guten. Der Mensch war glücklich, innerlich im Reinen mit sich selber und seinem Umfeld. Ein Wesen mit innerer Einheit und Konsistenz. Bis zu dem Moment der ersten Sünde! In diesem Moment der Entscheidung geschah etwas, was den Menschen nie mehr sein ließ, wie er eigentlich im liebevollen Plan Gottes sein sollte. Durch die Abwendung von seinem „Harmoniegeber“ aufgrund der Sünde zerstörte der Mensch auch seine innere Harmonie! Seine „Natur“ wurde verwundet, der vierfache Beziehungsbruch trat ein (zu Gott, zum andern, zu sich, zu den Dingen). Der Mensch wurde unsicher, die geistigen Fakultäten herrschten plötzlich nicht mehr über die sinnlichen Seelenkräfte, die Leidenschaften begannen, sich mit einer Gewalt aufzudrängen, die es unmöglich zu machen schien, sie zu beherrschen. Das Gewissen verlor seine lichtreiche Klarheit, der Wille wurde schwach, die Triebe nahmen überhand. Die innere Harmonie des Menschen war dahin; er wurde sich selber – und ist es bis heute – zum Rätsel.
Aus dem größten aller Erdenwesen, der „Krone der Schöpfung“ wurde das unberechenbare Geschöpf, das er bis heute ist. Alles liegt seit dem Tag der ersten Sünde in ihm. Wofür er sich entscheiden wird, das liegt Tag für Tag aufs Neue bei ihm. Diese Verwundung des inneren Menschen wird zum Erbe. Jeder, der das Licht der Welt erblickt, erzählt die Geschichte innerer Disharmonie. Gott streckt ihm mitleidsvoll seine Hand hin und will die verwundete Seele seines geliebten Geschöpfes, das er doch ihm ähnlich erschaffen hat, wieder heilen. Mit der ersten Sünde beginnt die Heilsgeschichte. In der durch die Sünde unheil gewordenen Welt und der verwundeten Menschenseele beginnt nun die Geschichte von Gnade und Sünde, Licht und Dunkel, Aufstieg oder Fall. Das Drama Mensch nimmt seinen Lauf...
Dies ist das fünfte Kapitel aus dem Buch "Einmal Gott und zurück" von P. Klaus Einsle. Dieses Buch basiert auf einer Serie von Artikeln in unserem L-Magazin.