Wir modernen Menschen haben einen beträchtlichen Teil des geistlichen Augenlichtes eingebüßt. Wir sehen das Geistige, das Innen-Liegende, das Übernatürliche, das Unsichtbare nur noch schwer. Daher sagt uns Gott oft wenig. Wir krallen uns unbewusst am Unmittelbaren, am Materiellen, Sicht- und Messbaren, am rein Natürlichen fest. Doch auf diese Weise geht der Blick für das Wesentliche verloren, man ist gehindert und erkennt nur noch einen Bruchteil der Wirklichkeit. Manche nennen das – fälschlicherweise – Aufklärung, ich würde es den „geistigen grauen Star“ nennen. Nur im Glauben sieht man gut. Auch in Bezug auf die Kirche scheinen manche heute dieser – zugegeben oftmals ungewollten – Sehschwäche zu erliegen. Dabei ist die Kirche das Geschenk Gottes an uns Menschen.
An der Kirche kann man zweifeln, wenn man will; man kann die Fehler ihrer Glieder sehen, die zahlreich vorhanden sind. Aber die Zeugnisse der Schrift, der Überlieferung und der Geschichte sind eindeutig: vor 2000 Jahren ist auf die Initiative des dreieinigen Gottes eine Glaubensgemeinschaft entstanden, die bis heute – ununterbrochen – andauert: das Christentum.
Genau diese Gemeinschaft hat eine große Aufgabe: Sie ist in den Augen Gottes wie eine Brücke vom Himmel her auf diese Welt, eine Brücke, auf der Gott zu den Menschen geht und auf der die Menschen zu Gott kommen können. Hier liegt der wesentliche Sinn dieser großen Gemeinschaft von inzwischen über einer Milliarde Menschen.
Hält man sich freilich einzig bei den äußeren Realitäten der Kirche auf (Fehler einzelner Menschen oder Gruppen, Unvollkommenheiten, Sparmaßnahmen, Umstrukturierung, Probleme der Pfarreien, Mitgliederschwund, usw.), so wird man ihr Wesen nicht begreifen und erkennen und somit am Plan Gottes vorbeizielen. Und wie wir schon sagten: Heute ist es schwer, vom Glauben her zu sehen. Doch nur so sieht man gut und richtig.
Der Begriff „Kirche“ hat zwei griechische Urbedeutungen: einerseits das Wort „kyriaké“ und andererseits „ek-klesia“. Diese Bedeutungen werfen wertvolles Licht auf das, was die Kirche ist.
κυριακή (sprich: küriakä); wir finden diesen Stamm z.B. im englischen „church“ oder im deutschen „Kirche“ wieder): Das Wort wurzelt im Wort „kürios“ (Herr) und könnte mit „Diejenige, die dem Herrn gehört“ oder „die dem Herrn Gehörende“ übersetzt werden. Die Kirche ist also eine Gemeinschaft, Institution, eine Ansammlung von Menschen, die dem Herrn, das heißt dem allmächtigen unendlichen dreieinen geistigen Gott gehört. Die Kirche ist nicht Eigenbesitz, sondern gehört Gott. Er ist ihr Eigentümer, ihr Besitzer. Jeder wahrhaft Glaubende ist also „Eigentum Gottes“, so wie es im Ursprung auch war. Aber es ist nicht der Besitz wie der eines Sklaven, sondern wie der eines geliebten Kindes, denn Gott ist ein guter Vater. Es ist also nicht ein materielles Eigentum, sondern eine geistig liebende Beziehung, Freundschaft, Schutz. All das ging durch die Sünde in die Brüche, soll nun aber durch die Kirche wiederhergestellt werden. Neue Freundschaft für die Menschen aller Zeiten, neue Sicherheit, Geborgenheit, Gott-Nähe. So können wir sagen, dass im Plan Gottes durch die und in der Kirche ein Raum entstehen soll, der nicht mehr dem Egoismus, dem Bösen, dem Dunklen gehört, sondern der Liebe, dem Guten, dem Licht. Welch ein Auftrag, was für ein Geschenk, was für eine Herausforderung.
εκκάλει (ek-kalein; vgl. franz. „église“): Dieses leitet sich aus der Zusammensetzung der griechischen Worte „ex“ (heraus) und „kalein“ (rufen) her und bedeutete im normalen Sprachgebrauch „Versammlung“ oder „Gemeinde“. Die Kirche ist demnach eine „Gemeinschaft der Herausgerufenen“. Das kann für uns bedeuten: Heraus aus der Masse der Anonymität, der Sünde und der Gottferne, hinein in die persönliche Gemeinschaft mit dem Schöpfer und untereinander im gemeinsamen Glauben. Die Mitglieder der Kirche sollen nicht einfach Teilnehmer, sondern eingeladen, gerufen worden sein. Von wem? Von Gott, geheimnisvoll in ihrem Herzen und durch andere, die sie einladen. Ist es nicht eine große Gabe an jeden, der der Kirche angehören darf? Mit dem Glauben gesehen, selbstverständlich!
Kirche war also in der Absicht Christi, als er sie gegründet hatte, nicht zuerst Gebäude, etwas Materielles, Lebloses oder von Menschen Geschaffenes. Kirche ist eine Gemeinschaft von Menschen, die Gott berührt, einlädt und neu in seine Freundschaft ruft; in eine vertraute und persönliche Freundschaft, so wie sie von Gott seit Anbeginn gedacht war. Und dazu erhalten sie konkrete Hilfen. In diesem Sinne ist der Heilige Geist die Verheißung und Gabe des auferstandenen Christus. Das Kommen des Heiligen Geistes zu Pfingsten wird somit zum Geburtstag der Kirche. Er führt die Apostel und die ganze Kirche zum Verständnis Christi und gibt ihnen Kraft und Mut zu ihrer Sendung in der Welt, aber auch immer wieder zur eigenen Erneuerung und Ausrichtung auf Christus.
Als Katholiken sind wir davon überzeugt, dass die Kirche Christi in der katholischen Kirche fortbesteht. Warum? Zunächst ist sie geschichtlich gesehen der Stamm, der in seiner Ganzheit auf Christus zurückgeht. Aber noch grundlegender ist in der katholischen Kirche der Glaube der Apostel bis heute erhalten, sie gründet seit jeher auf dem Fundament des Petrus und seiner Nachfolger, sie umfasst alle Sakramente und vor allem die Eucharistie, die ihr Christus anvertraut hat, und sie hat die geistlichen Hirtenämter bewahrt, die ihr Christus gegeben hat. All das sind weder moralische Verdienste der Katholiken noch eine ungerechte Zurücksetzung anderer, sondern ein Geschenk Gottes. Hier ist noch zu bedenken, dass sich die universale Kirche Christi in vielen Teil- oder Ortskirchen verwirklicht, in denen die erwähnten Gaben Gottes (Lehre, sakramentales bischöfliches Hirtenamt und Eucharistie) gegenwärtig sind. Solche Teilkirchen sind zum Beispiel unsere Diözesen, aber auch die orthodoxen Ortskirchen, auch wenn ihr Kirche-Sein durch die mangelnde Einheit mit dem Nachfolger Petri verletzt ist. Seit der Reformation haben sich unzählige weitere Gemeinschaften von Christen gebildet. Aus dem Glauben können wir erkennen, dass auch diese oft vorbildlichen Getauften schon jetzt zur Kirche Christi gehören und auf die volle Einheit mit ihm und seiner Kirche ausgerichtet sind.
Zugleich sehen wir, dass diesen kirchlichen Gemeinschaften einige wesentliche Elemente fehlen und man daher nicht im selben eigentlichen Sinne von einer Kirche sprechen kann, wie bei der katholischen Kirche oder bei einer orthodoxen Ortskirche. Diese Unterscheidungen lassen bereits erkennen, dass Gottes Liebe sich nicht auf jene Christen beschränkt, die formell Mitglieder der katholischen Kirche sind. Alle Getauften gehören zu Christus und sind auf besondere Weise in seinen Heilsplan eingeschlossen, und Gottes Gnade wirkt auch darüber hinaus, wo sie will (und sie will in allen Menschen aller Zeiten wirksam sein). Aber die Betrachtung dessen, was die Kirche ist, lässt uns durchaus erkennen, dass der von Gott gewollte und den Menschen angebotene Weg, die Urquelle der Freundschaft mit ihm, vielleicht könnte man sagen: der direkteste, eindeutigste, vollständigste und klarste Weg zu ihm, in der katholischen Kirche liegt.
Selbstverständlich ist die Kirche neben dem geistigen Ursinn – und dieser ist das Wesentliche, das wir nie verlieren dürfen – gleichzeitig auch materiell-konkret. Sie sollte nicht rein spirituell sein, sondern hat von Christus, der ja auch wahrer Mensch in unserer Welt war, eine irdische Form erhalten. Sie ist also einerseits die geistige Wahrheit einer Gemeinschaft von Menschen, die in ihr Gott finden; andererseits verwirklicht sie sich als konkrete Form, die sich menschlich-institutionell ausdrückt. Das eine ohne das andere ist immer Verkürzung. Wir aber wollen die ganze Kirche.
Sie ist das große Geschenk Gottes an die Welt. Danken wir Gott, dass er uns in dieser Kirche den Weg ermöglicht hat, auf dem wir zu ihm gehen können. Und wie wir diesen Weg gehen, darüber wollen wir uns im Folgenden Gedanken machen.
Dies ist das neunte Kapitel aus dem Buch "Einmal Gott und zurück" von P. Klaus Einsle. Dieses Buch basiert auf einer Serie von Artikeln in unserem L-Magazin.