Montag, 15. April 2024

Die Würde des Menschen unantastbar?

Die Veröffentlichung der vatikanischen Erklärung „Dignitas infinita“ erfolgt zur rechten Zeit – inmitten vieler Unsicherheiten und Debatten. – von Karl-Olaf Bergmann

„Dann sprach Gott: ,Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich‘ [..] Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.“ (Gen 1,26-27)„Dann sprach Gott: ,Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich‘ [..] Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.“ (Gen 1,26-27)Allein die Tatsache, dass der Mensch existiert, verleiht ihm aus christlicher Perspektive eine „unendliche Würde“. Es ist keineswegs trivial zu sagen: Ich bin / Du bist. Stattdessen wäre zu fragen: Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? (Gottfried Wilhelm Leibniz, 1714). Ohne Gott „wäre“ nichts. ER ist der Ursprung allen Seins. Alles, was ist, ist von Gott gewollt, geschaffen und geliebt. Und deshalb kann die Würde der menschlichen Person „niemals ausgelöscht werden und bleibt über alle Umstände hinaus gültig“. Was Papst Franziskus vor wenigen Tagen, in der vatikanischen Erklärung „Dignitas infinita“, die Kirche als „universelle Wahrheit“ erklären lässt, geriet rasch – und vorhersehbar – in die Diskussion. Die Aktualität und Bedeutung dieses Schreibens hat das in meinen Augen nur bekräftigt.

Inmitten aktueller Debatten

Am vergangenen Freitag (12. April) verabschiedete der Deutsche Bundestag das „Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag“ (kurz „Selbstbestimmungsgesetz“). Das Gesetz ermöglicht es betroffenen Personen, ihren Vornamen und ihren rechtlichen Geschlechtseintrag im Geburtenregister durch eine einfache Erklärung gegenüber dem Standesamt zu ändern, ohne dass ärztliche Gutachten oder Gerichtsverfahren erforderlich sind. Bereits der Gesetzentwurf (vom 23. August 2023) stieß deshalb auf erhebliche und unterschiedliche Kritik.

Das Gesetz wird in Fachkreisen als problematisch angesehen, da es Missbrauch ermöglichen könnte, indem es Personen erlaubt, ihren Geschlechtseintrag mit minimalen formalen Anforderungen zu ändern. Kritisch betrachtet wird ferner das Fehlen von Schutzmechanismen für Minderjährige, wie verpflichtende Beratungen oder Überprüfungen, obwohl die Entscheidung zur Geschlechtsänderung weitreichende Folgen hat und daher nicht übereilt getroffen werden darf.

Heute (15. April) legte eine von der Bundesregierung eingesetzte „Expertenkommission“ entsprechende Empfehlungen vor, die eine Regelung des Schwangerschaftsabbruchs auch außerhalb des Strafrechts möglich machen sollen. Demnach sollen Abtreibungen künftig in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen grundsätzlich erlaubt sein. Nach § 218 StGB ist ein Schwangerschaftsabbruch in Deutschland bislang rechtswidrig, bleibt aber bis zur zwölften Schwangerschaftswoche straffrei, wenn es zuvor eine Beratung gab und ein Beratungsschein ausgestellt wurde.

Der katholische Familienbischof Erzbischof Hainer Koch (Erzbistum Berlin) und die Caritas warnen seit Wochen davor, am sogenannten Abtreibungsparagraphen zu rütteln (siehe hier). Heute hat auch die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) die Empfehlungen der Kommission scharf kritisiert. Ihr Vorsitzender, Bischof Georg Bätzing (Bistum Limburg), verwies u.a. darauf, dass die Empfehlungen auf der Falschannahme beruhen, dass ein Schwangerschaftsabbruch das ungeborene Kind nicht in seiner Menschenwürde verletze. Ein vollwertes Lebensrecht erlange das Kind laut Ansicht der Kommission erst mit der Geburt, kritisierte er. Eine solche Relativierung der fundamentalen Würde jedes Menschen, auch des ungeborenen Kindes, und eine Relativierung, Einschränkung oder Abstufung des damit verbundenen Grundrechts auf Leben „halten wir für falsch“, betonte Bischof Bätzing (siehe hier).

(Foto: Daniel Ibáñez / EWTN News)(Foto: Daniel Ibáñez / EWTN News)Gefahr der Verdunkelung

Selten schien also eine Erklärung des Vatikans direkter auf eine akute Situation zu antworten, so heißt es in „Dignitas infinita“ u.a. zur Abtreibung:

„Die Kirche hört nicht auf, daran zu erinnern, dass die Würde eines jeden Menschen einen intrinsischen Charakter [hat] und sie gilt von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod. Gerade die Bejahung dieser Würde ist die unveräußerliche Voraussetzung für den Schutz der persönlichen und sozialen Existenz und zugleich die notwendige Bedingung für die Verwirklichung von Brüderlichkeit und sozialer Freundschaft unter allen Völkern der Erde“ (Nr. 47).

Weiter zur Gender-Theorie schreibt die Erklärung: „Deshalb sind alle Versuche abzulehnen, die den Hinweis auf den unaufhebbaren Geschlechtsunterschied zwischen Mann und Frau verschleiern: „[M]an [kann] das, was männlich und weiblich ist, nicht von dem Schöpfungswerk Gottes trennen […], das vor allen unseren Entscheidungen und Erfahrungen besteht und wo es biologische Elemente gibt, die man unmöglich ignorieren kann“ (Nr. 59).

Zur Frage der Geschlechtsumwandlung heißt es: „Daraus folgt, dass jeder geschlechtsverändernde Eingriff in der Regel die Gefahr birgt, die einzigartige Würde zu bedrohen, die ein Mensch vom Moment der Empfängnis an besitzt“ (Nr. 60).

Damit wird deutlich, worin das Ziel der Erklärung liegt: „Dignitas infinita“ will von Themen handeln, „die es ermöglichen, verschiedene Aspekte der Menschenwürde zum Ausdruck zu bringen, die im Bewusstsein vieler Menschen heute möglicherweise verdunkelt sind“ (Einleitung).

„Gemäß der Offenbarung entspringt zunächst einmal die Würde des Menschen der Liebe seines Schöpfers, der ihm die unauslöschlichen Züge seines Ebenbildes eingeprägt hat (vgl. Gen 1,26) und ihn dazu aufruft, ihn zu erkennen, zu lieben und in einer Bundesbeziehung mit ihm sowie in Brüderlichkeit, Gerechtigkeit und Frieden mit allen anderen Menschen zu leben.“ („Dignitas infinita“, Nr. 18)„Gemäß der Offenbarung entspringt zunächst einmal die Würde des Menschen der Liebe seines Schöpfers, der ihm die unauslöschlichen Züge seines Ebenbildes eingeprägt hat (vgl. Gen 1,26) und ihn dazu aufruft, ihn zu erkennen, zu lieben und in einer Bundesbeziehung mit ihm sowie in Brüderlichkeit, Gerechtigkeit und Frieden mit allen anderen Menschen zu leben.“ („Dignitas infinita“, Nr. 18)In der Lehrtradition der Kirche

In der Präsentation und Einleitung zur Erklärung finden sich zahlreiche Verweise auf Aussagen und Dokumente aus der jüngeren Kirchengeschichte zum Thema.

So wird an die Pastoral Konstitution „Gaudium et Spes“ (7. Dezember 1965) erinnert, die als gegen die Menschenwürde verstoßend versteht, „was […] zum Leben selbst in Gegensatz steht, wie jede Art Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und auch der freiwillige Selbstmord“ (II. Vatikanisches Konzil, Nr. 27: AAS 58, 1966, S. 1047).

1980 formulierte dann erstmals der hl. Johannes Paul II., dass die Würde des Menschen als „unendlich“ (dignitas infinita) verstanden werden könne (16. November 1980), und im Jahr 2010 erklärte Benedikt XVI., dass die Würde der Person „ein grundlegendes Prinzip [ist], das der Glaube an Jesus Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen, immer verteidigt hat“ (13. Februar 2010).

Die aktuelle Erklärung „Dignitas infinita“ selbst geht auf einen Beschluss der damaligen Kongregation für die Glaubenslehre aus dem Jahr 2019 zurück. Bis zur Veröffentlichung vergingen also fünf Jahre der Reifungszeit, was schon für sich deren Bedeutung aufzeigt.

2020 betonte Papst Franziskus in der Enzyklika „Fratelli tutti“ (3. Oktober 2020), dass die Würde des Menschen „unabhängig von allen Umständen“ besteht, und forderte alle auf, sie in jedem kulturellen Kontext, in jedem Augenblick des Lebens eines Menschen zu verteidigen, unabhängig von körperlichen, psychologischen, sozialen oder sogar moralischen Mängeln.

„Dignitas infinita“ steht also ganz in der katholischen Lehrtradition. Ihre Aktualität gewinnt sie nicht nur durch die aktuellen Debatten, auf die sie scheinbar eingeht, sondern durch ihren Blick auf spezifische Themen unserer Zeit, die mit der Menschenwürde verbunden sind, wie das Drama der Armut, Krieg, die Leiden der Migranten, Menschenhandel, sexueller Missbrauch, Gewalt gegen Frauen, Leihmutterschaft, Euthanasie und assistierter Suizid, Gewalt in der digitalen Welt und andere.

4-teiliger Aufbau

Die Erklärung besteht aus vier Teilen. Am Anfang stehen eine Präsentation und eine Einleitung.

„In den ersten drei Teilen erinnert die Erklärung an grundlegende Prinzipien und theoretische Annahmen, um wichtige Klarstellungen zu bieten, die die häufigen Verwirrungen vermeiden können, die bei der Verwendung des Begriffs ‚Würde‘ auftreten. Im vierten Teil werden einige aktuelle problematische Situationen dargestellt, in denen die unermessliche und unveräußerliche Würde, die jedem Menschen zukommt, nicht angemessen anerkannt wird.“

Überblick:

- Einleitung, Nr. 1 bis 9

- 1. Teil, Ein fortschreitendes Bewusstsein für die zentrale Bedeutung der Menschenwürde, Nr. 10 bis 16; zu den Themen: Biblische Perspektiven, Entwicklungen des christlichen Denkens (darin der Begriff der Person), Gegenwärtige Zeiten (darin der Begriff der Würde).

- 2. Teil, Die Kirche verkündet, fördert und macht sich zum Garanten der Menschenwürde, Nr. 17 bis 22; zu den Themen: Ein unauslöschliches Bild Gottes, Christus erhebt die Würde des Menschen...

„Indem er sich durch seine Menschwerdung in gewisser Weise mit jedem Menschen vereinigte, bestätigte Jesus Christus, dass jeder Mensch allein durch die Zugehörigkeit zu derselben menschlichen Gemeinschaft eine unschätzbare Würde besitzt, die niemals verloren gehen kann.“ (Nr. 19)

Weitere Themen: Eine Berufung zur Fülle der Menschenwürde, Ein Einsatz für die eigene Freiheit.

- 3. Teil, Die Menschenwürde, die Grundlage der Menschenrechte und -pflichten, Nr. 23 bis 32; zu den Themen: Unbedingte Achtung der Menschenwürde, Ein objektiver Bezugspunkt für die menschliche Freiheit, Die Beziehungsstruktur der menschlichen Person...

„Die Menschenwürde trägt angesichts des Beziehungscharakters der Person dazu bei, die reduktionistische Perspektive einer selbstbezogenen und individualistischen Freiheit zu überwinden, die den Anspruch erhebt, ihre eigenen Werte unabhängig von den objektiven Normen des Guten und der Beziehung zu anderen Lebewesen zu schaffen.“ (Nr. 26)

Weitere Themen: Befreiung des Menschen von jedem moralischen und sozialen Zwang...

„Losgelöst von ihrem Schöpfer kann unsere Freiheit nur schwächer werden und sich verdunkeln. Dasselbe geschieht, wenn die Freiheit sich als unabhängig von einem anderen Bezugspunkt als sich selbst begreift und jede Beziehung zu einer voraufgehenden Wahrheit als Bedrohung empfindet.“ (Nr. 30)

„Gleichzeitig ist es offensichtlich, dass die menschliche Geschichte Fortschritte im Verständnis der Würde und der Freiheit der Personen zeigt, aber nicht ohne Schatten und Gefahren einer entgegengesetzten Entwicklung. Davon zeugt das auch unter christlichem Einfluss – der in zunehmend säkularisierten Gesellschaften weiterhin lebendig ist – wachsende Bestreben, den Rassismus, die Sklaverei und die Ausgrenzung der Frauen, Kinder, Kranken und Behinderten zu beseitigen. Doch dieser mühsame Weg ist noch lange nicht zu Ende.“ (Nr. 32)

- 4. Teil, Einige schwere Verstöße gegen die Menschenwürde, Nr. 33 bis 62; zu den Themen: Das Drama der Armut, Der Krieg, Die Leiden der Migranten, Der Menschenhandel, Sexueller Missbrauch, Die Gewalt gegen Frauen, Abtreibung, Leihmutterschaft, Die Euthanasie und assistierter Suizid, Der Ausschuss von andersfähigen Menschen, Gender-Theorie, Geschlechtsumwandlung, Gewalt in der digitalen Welt.

Den Text der Erklärung im Wortlaut finden Sie auf der Webseite des Vatikans u.a. auf Deutsch.

Karl-Olaf Bergmann

Additional Info

  • Untertitel:

    Die Veröffentlichung der vatikanischen Erklärung „Dignitas infinita“ erfolgt zur rechten Zeit – inmitten vieler Unsicherheiten und Debatten. – von Karl-Olaf Bergmann

  • Kategorie News : Aktuelles aus anderen Bereichen
  • Datum: Ja
  • Druck / PDF: Ja
  • Region: Deutschland, International

    

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